Bezaubernd schön und mit individueller Geschichte
Wer bist du mit all deinen Erfahrungen, Erlebnissen, Erfolgen, Niederlagen, Wunden und Potenzialen? Wieviel davon bekommt Platz in deinem Leben und was davon darf sichtbar sein? Wie darf es sichtbar sein?
Normalerweise bemühen wir uns sehr, nur das von uns zu zeigen, was auch wirklich Eindruck macht: die schönen Seiten, unser Selbstbewusstsein und unsere Klarheit. Trotzdem faszinieren uns Menschen, die auch von weniger guten Erfahrungen erzählen, die sie zutiefst geprägt und verändert haben, ja, die sie wahrhaftig zu einer neuen Version ihrer selbst werden lassen haben. Andererseits finden wir Menschen, die nur über ihr Leid und über ihre negativen Erlebnisse sprechen und diese fast schon zelebrieren, als anstrengend und fast auch ein bisschen mühsam.
Das Leben im Ganzen betrachten
Wo befindet sich also die Mitte? Nicht nur im Umgang mit anderen, sondern vor allem auch im Umgang mit uns selbst? Wie können wir unser Leben im Ganzen betrachten, ohne Teile davon wegzuschalten, sie gleichzeitig aber auch nicht übertrieben ins Rampenlicht zu stellen? Wie können sich auch die scheinbar negativen Erlebnisse harmonisch in unser Sein einfügen?
Die Vorstellung, wie es sein kann
Während einer Veränderungs- oder Umbruchsphase sind wir oft im höchsten Maße damit beschäftigt, den kleinen und größeren inneren Dämonen zu begegnen. Das ist nicht immer liebevoll, von Schönheit ganz zu schweigen. Im Gegenteil, es ist oft sehr dunkel, sehr traurig und mühsam. Obwohl wir hoffen, dass es besser wird, sind wir trotzdem jedes Mal aufs Neue wieder mit den gleichen Themen konfrontiert. Es scheint oft, als stünden wir vor den Scherben eines Lebens, das wir nicht mehr verstehen. Gleichzeitig sind wir damit beschäftigt, das Bild, das wir glauben, verkörpern zu müssen, nach außen aufrechtzuerhalten. Das kann sehr anstrengend sein. Zumal wir parallel dazu auch noch die kaputten Teile aufsammeln müssen und uns ständig daran erinnern, was zerbrochen ist. Das, was nicht mehr ganz ist, steht ständig im Fokus. Die Erinnerung wie es war, ist noch präsent, aber irgendwie doch blass und leblos. Die Vorstellung, wie es sein kann, fehlt manchmal komplett.
Sinn für Schönes neu definieren
Möglicherweise fühlen wir uns wie eine Schüssel, die ihren Inhalt nicht mehr tragen kann. Auch wenn es vielleicht dramatisch klingt, muss manches aber tatsächlich zuerst zerbrechen, um dann neu zusammengesetzt werden zu können. Vielleicht ist eine Neuordnung sogar dringend notwendig. Sehr wahrscheinlich wollen die schmerzhaften Erfahrungen darin integriert werden, ein Teil des Ganzen werden und so zu einem neuen Weg beitragen. Die meisten Menschen, die heute gut ausbalanciert, geerdet und offen für Neues sind, haben einen sehr interessanten Werdegang, der selten nur Gutes beinhaltet. Im Gegenteil, diese Menschen haben aus ihren vielfältigsten Lebenserfahrungen Kraft geschöpft und den Blick auf die wirklich wesentlichen Dinge im Leben gelenkt. Sie haben ihre Aufmerksamkeit überprüft und den Sinn für Schönes neu definiert. Im Fokus haben sie nicht nur das, was zerbrochen ist, sie wissen auch um die Kraft dessen, was daraus erst entstehen konnte.
Inspirierende Veredelung
Sehr inspirierend dazu ist das japanische Kintsugi. Ein traditionelles, japanisches Handwerk, bei dem zerbrochene Keramikgegenstände auf besondere Art und Weise repariert werden: Die Bruchlinien werden nämlich mit Goldstaub veredelt und machen aus dem zerbrochenen Stück eine bezaubernde Schönheit mit individueller Geschichte.
Zwei Buchtipps dazu:
Löhndorf, Andrea: Kintsugi. Die Kunst, schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln. Scorpio Verlag 2021.
Neundorfer, German: Die sichtbare Seele der Dinge. Kintsugi und die Schönheit des Unperfekten. Pattloch Verlag 2021.